Große Freiheit – ein Kommentar von Prof. Dr. Fauser
Geschrieben von Prof. Dr. Peter Fauser als Email an Matthias von Hintzenstern, der als Cellist mitwirkte im Workshop und Konzert des „Intuitive Music Orchestra“ unter der Leitung von Markus Stockhausen, am 6. und 7. November 2018 bei den 31. Tagen Neuer Musik in Weimar.
GLÖ, den 8. November 2018
Lieber Matthias,
es drängt mich, Dir und Euch, dem Werkstattensemble, nach dem gestrigen Konzert ein paar Zeilen zu schreiben.
Ich hatte ja die Möglichkeit, bei der ersten Phase Eurer Probenarbeit am Dienstag dabei zu sein, und das war für mich gestern Abend doch ein sehr wichtiger Hintergrund. Mir hat sich das Zusammenspiel, Eure musikalische Kommunikation, viel besser und leichter erschlossen, als wenn ich unvorbereitet ins Konzert gekommen wäre. So konnte ich sehr gut verfolgen, wie die Themen und Formen in der Musik entstanden sind, wie sie vom Ensemble aufgenommen, verwandelt, weitergedacht, erwidert wurden und wie sie wieder vergangen sind. Zwischen Dienstag und gestern haben sich die Mitwirkenden auf für mich frappierende Weise auch selbst „verwandelt“, wobei ich natürlich offen lasse, ob dieser Eindruck allein auf meiner begrenzten Wahrnehmung gründet.
Was habe ich gesehen und gehört: Augenfällig und ohrenfällig war, wie alle Musikerinnen und Musikern von den ersten tastenden Bewegungen bis zum Konzert zu einer großen Freiheit gefunden haben, erkennbar an der ganz individuellen Art initiativ zu werden, sich zurückzunehmen, groß aufzudrehen und dabei das ganze Repertoire auszuspielen, die das Instrument bietet; ein wunderbarer Strauß musikalischer Könnerschaft. Ich vermute – so habe ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Musizierpraxis mitempfunden -, dass für die meisten diese Möglichkeit, Fesseln fallen zu lassen und im Spiel zu sich selbst zu kommen, eine eminente Erfahrung ist; mir fiel immer wieder das Wort von Hannah Arendt ein, die sagte, die „Geburtlichkeit“, die Gabe, etwas Neues anzufangen in der Zeit, sei ein Kern des Menschseins. Wenn ich beim Zuhören gestern immer wieder an die schriftlich fixierte Musik gedacht habe – die ich sehr liebe -, dann kam es mir so vor, als verblasse ihre Farbe.
Das ganze lange Stück gestern Abend, wie ein mehrsätziges Werk mit fließenden Übergängen, hat eine für mich erstaunliche Vielfalt von Formen und Ausdrucksmitteln durchwandert – von hauchzarten, ja liebevollen Wechselgesprächen – ganz intensiv etwa der Schluss mit den beiden Akkordeonisten am Bühnenvorhang – über fast stehende Klangflächen, teilweise mit betörend strahlenden Akkord-Schichtungen, auch ohne Scheu vor dem einen oder anderen Dur und fugenartigen Verschränkungen und Verwicklungen der Stimmen mit furiosen metrischen und rhythmischen Rasereien bis hin zu solistischen Auftritten und gemeinsamen, bis ins Schmerzhafte gesteigerten Crescendi und bis ins Verlöschen loslassenden Decrescendi. Die Instrumenten-Vielfalt hat hier einen betörenden Reichtum der Klangfarben-Palette ermöglicht. Die Elektronik war so raffiniert mit im Spiel – als Kulisse, Wolke, Impulsgeber, Verfremderin -, dass für mich jedenfalls keinerlei „Künstlichkeit“ zu spüren war – außer der gewollten Erkennbarkeit der „elektronischen Stimme“ aus ihrem Eigenrecht als elektronisch erzeugt. –
Besonders gespannt war ich natürlich auf die Rolle und Arbeitsweise von Markus Stockhausen; das hat mich vor allem vor dem Hintergrund meiner Zeit als Musiklehrer und Chorleiter sehr interessiert. Er kann ja auf glückliche Weise seine eigenen Gaben als Komponist, Improvisator, Virtuose, Bandleader und Zeitgenosse, der genau sieht und fühlt, wohin es mit der Gesellschaft gehen will – und eigentlich im Interesse der Humanität gehen sollte –, er kann dies ja mit, ich zögere nicht, zu sagen: pädagogischer Virtuosität einsetzen. Es ist mir nicht entgangen (wer ein Ensemble geleitet hat, kennt das), wie schnell er „intuitiv“ (was ja nichts anderes ist, als eine äußerst differenzierte implizite Kognition) erfasst hat, wie die Mitglieder der Werkstatt „drauf“ sind. Ich hatte am Dienstag beim Zuschauen auch Eindrücke davon, wer eher offen, voller Spiellust, wer eher ängstlich, mit kritischer Distanz oder entspannt abwartend in der Runde gesessen hat.
Gestern Abend haben alle ihre Stimme und ihren musikalischen Ort im gemeinsamen Werk gefunden. Es war mir auch sehr wichtig zu sehen, dass Markus Stockhausen durchaus – ermutigend, einladend, auffordernd, anfeuernd -, immer wieder interveniert und ganz besonders bei den atavistischen Ausbrüchen und den furiosen polyphonen Exzessen als Bandleader oder Lotse der gemeinsamen Schöpfung mit Vorsicht und Klarheit zu einer gemeinsamen Richtung verholfen hat. Es wäre ja auch absurd, der eigenen Erfahrung einen Maulkorb zu verpassen unter dem – im ideologischen Spontanismus verbreiteten – Irrglauben, jeder müsse immer alles aus dem Urschleim entwickeln. – Für mein pädagogisches Arbeitsfeld habe ich den Begriff eines „Verstehens zweiter Ordnung“ vorgeschlagen, um die professionelle Fähigkeit zu fassen, um die es dabei geht: Als Lehrer eigenes Wissen und eigene Können wie einen Resonanzraum den Lernenden zur Verfügung stellen. Ich erwähne dies, weil ich gestern Abend im Hinausgehen ungewollt Zeuge eines kurzen Wortwechsels zwischen zwei Musikstudenten (vermute ich) geworden bin, von denen der eine meinte, das sei ja ein wirklich ganz tolles Konzert gewesen, aber Stockhausen habe ja doch, anders als man es bei einer wirklichen Improvisation doch erwarten müsse, wie ein Dirigent eingegriffen …
Aus meiner Sicht ist das vielleicht verständlich, aber doch sehr naiv. Wenn wir kulturell beim Punkt Null anfangen müssten, gäbe es keine Zukunft.
Mir ist freilich eins doch sehr wichtig zu sagen: Für mich war auf eindrucksvolle Weise zu sehen, wie stark das musikalische Niveau eines Ensembles, ganz bestimmt bei freier Musik noch mehr als sonst, vom Niveau derer abhängt, die leiten. Anspruch und Freiheit und ansteckender Mut, sich zu zeigen und einzumischen, werden von denen vorgegeben und müssen von denen vorgegeben werden, die kraft Erfahrung und Einsicht dazu in der Lage sind. Sie sind, ob sie es wollen oder nicht, soziale Modelle für die anderen. Ich würde mir mehr Menschen wünschen, die dies erkennen und praktizieren. Der Geist der Befreiung ist eine Errungenschaft der Kultur, und er kann auch verspielt werden.
Dir und allen Beteiligten, besonders natürlich Herrn Stockhausen, nochmals herzlichen Dank für dieses Erlebnis; ich möchte es nicht missen.
Dein Peter