Interview von Sven Rohde auf svenrohde.com, Hamburg, 2/2017

Musik ist die Stimme der Seele

Gespräch mit dem Trompeter und Komponisten Markus Stockhausen über Selbstausdruck, die Arbeit mit seinem Vater Karlheinz Stockhausen und Spiritualität in der Musik

Wann hatten Sie das erste Mal nach einem Konzert oder einer Aufnahme das Gefühl: Diese Musik ist wirklich der Ausdruck meines Selbst?
Diese Momente gab es früh. Intensiv habe ich es empfunden, als ich 1982 mit Rainer Brüninghaus das Album „Continuum“ aufgenommen habe. Das war ein magischer Moment. Da ist hörbar etwas von meinem Wesen angekommen auf der Platte. Sie ist ein Meilenstein meiner Karriere, mit dem ich mich immer noch identifizieren kann. Diese Momente habe ich in anderen Konstellationen immer wieder gesucht und weitergeführt, auch mit meinem Bruder Simon, im Trio Lichtblick, bei Quadrivium, Electric Treasures, jetzt im Duo mit Florian Weber am Flügel. Da sind eine Freiheit im Klang und ein wunderbares Nehmen und Geben im Zusammenspiel.

Lässt sich beschreiben, was da passiert, oder kann man es nur hören?
Dafür ist Musik da, dass man sie hört. Aber vielleicht: dass ich in einen Strom von Energie komme, in dem sich das eigene innerste Wesen ganz ausdrücken darf und zu einer Erfüllung kommt. Ich bin dann vielleicht über ein oder zwei tote Punkte der Erschöpfung hinweg und gebe mich ganz hin. Dann verschmelze ich mit der Musik. Solche beglückenden und tiefen Erfahrungen habe ich auch in der Musik meines Vaters gehabt. Sonst hätte ich sie auch nicht immer wieder spielen können.

Welche Momente erinnern Sie?
Wir haben 1985 in Berlin mit dem Radiosymphonieorchester die Oper „Samstag aus Licht“ konzertant aufgeführt. Da spielte ich das Solo „Oberlippentanz“ mit der Piccolo-Trompete. Mein Vater stand neben mir und dirigierte, und dann gab es eine lange Kadenz und ich spielte, zuerst stehend, dann kniend, dann liegend. Dann stand ich langsam wieder auf und führte das Solo zu einem Höhepunkt, an dem das Orchester wieder einsetzte, mit einem ganz hohen Ton von mir – wenn das gelingt, dann ist das so erfüllend und man weiß: Das war gut! Da sind mein Vater und ich uns sehr schön begegnet. Ich wollte, dass er ganz schwierige Passagen für mich schreibt, sehr tiefe oder sehr hohe Töne, ich wollte diese Extreme, die ich selbst an Jazztrompetern bewunderte. Das war total schwer für mich! Aber ich wollte es so.

Ich habe von Ihnen das Zitat gefunden: „Sobald ich merke, das Musik sich wiederholt, wende ich mich innerlich ab. Ich will dem Jetzt Ausdruck verleihen. Man muss einer höheren Idee dienen, die gerade im Moment entsteht.“
Wenn ich merke, dass Dinge in Schemata ablaufen, dann langweilt mich das. Als ich ein Haydn-Konzert mit Orchester spielte, war der erste Impuls: Ich will es gut machen. Das dirigierte mein Vater, und ich bewies mir, dass ich das kann. Dann kam der Punkt, an dem es mich langweilte, weil ich merkte, das können doch hundert andere auch. Dieser ganze Ritus, die Orchesterproben, der Dirigent und „hallo, los geht’s“ und bloß keinen falschen Ton – das interessierte mich überhaupt nicht mehr. Deswegen habe ich damit aufgehört. Das ist für mich typisch. Ich mache Dinge im Ausschlussverfahren, ich erlebe sie und schließe sie dann für die Zukunft aus. Darin sehe ich einen Sinn des Lebens. Die gesamte Schöpfung ist uns geschenkt, damit wir uns selbst erkennen und formen. Wenn man sagt, Gott ist Liebe, ist das für mich Ausdruck seiner Liebe: dass wir in der Anschauung der ganzen Welt erwachen dürfen. Mit allem Leid, allen Schwierigkeiten – genau so muss das sein. Darin sehe ich tiefste Weisheit. Wenn wir nicht diese gewaltigen Probleme in ihrer ganzen Spannweite zu bewältigen hätten, dann wären wir flach und langweilig. Und so ist es für mich in der Musik. Wenn sie sich zu oft wiederholt, dann möchte ich weiter.

Ist das nicht ein gewaltiger Anspruch zu sagen: Es muss immer neu sein?
Es muss nicht neu sein, es muss lebendig sein. Und wenn es lebendig ist, ist es auch neu. Musik ein wunderbares Ausdrucksmittel, weil wir im Moment (Stockhausen schnippt laut mit den Fingern) Neues schöpfen können. Das ist in der Bildenden Kunst anders, langsamer, mühevoller. Diese Unmittelbarkeit der Musik ist es, die mich fasziniert. Es ist eine Gnade, Musik machen zu dürfen.

In einem Vortrag haben Sie das Phänomen beschrieben, dass Sie im Zusammenspiel mit anderen auf einmal Tonfolgen spielen, die Sie nie zuvor geübt haben. Was geschieht da?
Ich spüre, es packt mich. Ich komme in einen Strom und spiele etwas, das ich vorher nicht für möglich gehalten habe. Eine sehr beglückende Erfahrung. Wenn man sich mit Anthroposophie beschäftigt hat, dann weiß man, dass alles, das schon mal auf der Welt gemacht oder gedacht wurde, gespeichert ist: in der Akasha-Chronik. Das klingt für viele Menschen natürlich wie Spuk, aber auf Basis der Quantenphysik könnte das Phänomen erklärbar werden. Da komme ich als Trompeter auf einmal in einen Miles-Davis-Sog hinein. Als ich mit dem Pianisten Antoine Hervé in einem Pariser Jazzclub spielte, den Dämpfer aufsetzte, da kam ich in diesen Mood, den Miles so geliebt hat. Ich bin gleichsam auf energetischer Ebene angeschlossen an den kollektiven Erfahrungsschatz der Menschheit. Ich muss das gar nicht vorher gehört haben. Wenn ich mich einlasse, dann komme ich damit in Resonanz. Sie ist das Schlüsselwort.

Wie geht es Ihnen in den Seminaren „Singen und Stille“, die Sie anleiten? Da singen die Teilnehmer ganz basal, Grundton, Quinte, Oktave, viele haben Mühe mit der Intonation. Wenn man Ihre Vorgeschichte als Musiker kennt, fragt man sich: Worin liegt der Reiz für Sie?
Tatsächlich ist es mir nie langweilig geworden, obwohl ich das schon seit 2001 mache. Dieses schöpferische Element der Spiritualität, das ich in der Musik so liebe, überträgt sich in diesen Seminaren. Wie kann ich diese Gruppe anleiten, wie kann ich einzelnen helfen, über ihren Schatten zu springen, über das Singen sich selbst zu erkennen? Das ist immer wieder neu. Diese Frage „wer bin ich?“ steht im Zentrum der Seminare. Und das Singen und die Meditation im Wechsel öffnen den Weg zur selben Quelle, die ich als Musiker kenne, die aber jeder, wirklich jeder in sich finden kann. Wo ist das Momentum eines erfüllten Lebens zu finden? Nur in uns selbst. Und mit „Singen und Stille“ gibt es die wunderbare Möglichkeit, es unmittelbar zu spüren.

Im Kontrast zu den spektakulären Inszenierungen, an denen Sie Teil hatten, den Auftritten in den berühmtesten Kulturtempeln der Welt wirken Wohnzimmerkonzerte oder Seminare mit 30 Teilnehmern alles andere als standesgemäß. Warum machen Sie das?
Das Momentum wahrer Lebendigkeit kann auf der größten Bühne stattfinden – oder auch nicht. Ob vor 70 oder 2000 Menschen, ist unerheblich. Die Bewertung, ob etwas groß ist oder klein, habe ich komplett fallengelassen.

Sie leiten auch Klangmeditationen an. Wie inszenieren Sie das?
Einerseits spiele ich, andererseits leite ich das Publikum zum „Tönen“ an, zum Singen ohne Worte. Ich sitze zum Teil am Klavier und begleite mit Akkorden. Das ist eine neue Form, die mir in der Meditation ins Bewusstsein kam. Das mache ich als „Singphonie“ beim Bund Deutscher Yogalehrer, mit 500 Menschen. Oder auf einem Kongress mit 1000 Menschen. Viele Teilnehmer im Publikum sind sehr berührt. Das hat mich zunächst stutzig gemacht. Jetzt weiß ich: Es baut sich ein Energiefeld auf. Die Musik öffnet einen Raum in der Seele, den wir mit Worten nicht erreichen. Um es mit Hazrat Inayat Khan, dem Begründer des Sufi-Ordens, zu sagen: Musik ist die Stimme der Seele. Die Sehnsucht, die wir spüren, ist der Ausdruck der Seele, um zum Göttlichen in uns zu finden. Sie ist heilig. Und bei diesen Klangmeditationen wird sie für mich und viele andere Menschen spürbar. Auch deswegen fühle ich mich berufen, Menschen mit Musik zu inspirieren.




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