Die höchste Schule – der Trompeter Markus Stockhausen
Stockhausen! Der Name allein beschwört tausend Vorurteile herauf. Gerechtfertigt und ungerechtfertigt. Markus Stockhausen ist Jazz-Musiker, und er ist kein Jazz-Musiker. Er ist ein gutes Stück davon entfernt, für den europäischen Jazz eine ähnliche Position einzunehmen wie sein Vater für die zeitgenössische Musik, und damit ist er zufrieden, denn es geht ihm weniger um ein monolithisches Auftreten als um Kommunikation im Geiste gegenseitiger Befruchtung.
Wolf Kampmann: Deine letzten drei Platten waren zwar sehr unterschiedlich, aber dein Part war immer derselbe. Er war durch deine Stimme charakterisiert, die ganz klar Distanz zu allen anderen Instrumenten wehrte. Auf der neuen CD ist anstelle dieser Klarheit eine gewisse Mystik getreten, die diese Distanz aufhebt.
Markus Stockhausen: Das kann ich selbst sehr schwer kommentieren. Man hat ja immer das Gefühl, man bliebe gleich. Plötzlich kommt jemand von außen und sagt, man hätte sich verändert. Man selbst merkt das nicht, obwohl man ständig versucht, an sich zu arbeiten, sich abzuschleifen und besser zu integrieren. Viel von dem passiert unbewusst und wird von einer inneren Quelle gesteuert, die sich aus dem Unterbewusstsein speist. Man selbst sieht meist eher die Probleme als die positiven Veränderungen, die sich daraus ergeben.
Wolf Kampmann: Ich habe auf diese Weise viel leichter Zugang zu deiner Musik gefunden. Auf diesem Triptychon vor vier Jahren warst du viel mehr Trompeter. Jetzt bist du eher Musiker, dem es um einen Gesamtkontext geht. Wie kam es zu Karta?
Markus Stockhausen: Ich wollte schon lange mal mit einer richtigen Rhythmusgruppe arbeiten, nachdem ich ja vorher in Aparis ohne Bass gespielt hatte. Der Ursprung dieses Projektes lag in einer Veranstaltung in Griechenland, zu der sowohl ich als auch Arild Andersen geladen waren. Wir sollten die Musik von drei griechischen Komponisten aufführen. Arild und ich waren die beiden ausländischen Gäste. Da haben wir uns kennen gelernt. Wir haben eine kleine Tour unternommen und Aufnahmen gemacht. Dabei merkten wir, dass es Spaß machen könnte zusammenzuspielen, weil wir ähnliche Backgrounds und Klangvorstellungen hatten, was sicher auch mit ECM zu tun hatte. Zuerst spielten wir im Duo und probierten verschiedene Möglichkeiten aus. Dann lernte ich bei Dhafer Youssef Patrice Héral kennen und entschied spontan, das ist unser dritter Mann. Patrice und Arild verstehen sich mittlerweile so gut, dass ich manchmal ein wenig außen vor bin. Es war im Grunde die Suche nach dem richtigen Bassisten und dann das Abwägen, wer dazu passen könnte. Diese Chemie, die Leute zu finden, mit denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt am besten zusammenpasst, ist ein ganz schwieriges Thema. Das wandelt sich auch immer wieder. Jeder macht unterschiedliche Persönlichkeitsphasen durch. Es kommt vor, dass man gerade anfängt, mit einem Projekt Erfolg zu haben, die persönliche Lernkurve innerhalb dieser Situation aber schon wieder dem Ende zugeht. So ging es mit Rainer Brüninghaus. Wir hatten vier Jahre sehr intensiv zusammengearbeitet und begannen, richtig Erfolg zu haben. An diesem Punkt merkte ich aber, dass sich in mir etwas im Kreis gedreht hat und ich weitergehen wollte. Ich stieg aus, was im Hinblick auf den Erfolg gar keinen Sinn machte. Aber ich glaube, man sucht sich im Leben sowohl künstlerisch als auch persönlich Partner, mit denen man lernen kann. Wenn sich das Potential des Austausches erschöpft hat und man stagniert, erübrigt sich das wieder. Im Jazz werden die Partner leider oft in viel zu kleinen Abständen getauscht. Es bilden sich immer neue Konstellationen. Dem wird von den Festivals stark Vorschub geleistet, weil die immer eigene Vorstellungen haben, wer mit wem spielen sollte. Ich finde dieses Konzept eher fragwürdig.
Wolf Kampmann: In dieser Hinsicht hat der Rock dem Jazz viel voraus, denn da halten Besetzungen in der Regel viele Jahre. Das intellektuelle Muskelspiel ist im Jazz viel stärker ausgeprägt als im Rock.
Markus Stockhausen: Unser Trio Stockhausen/Andersen/Héral, wie wir uns nennen, arbeitet jetzt seit zwei Jahren konstant zusammen, und das macht sich bezahlt. Es ist auch mein Wunsch, eine Gruppe zu haben, mit der ich mich kontinuierlich weiterentwickeln kann. Da gibt es eine Vertrautheit und vieles, auf das man in den Konzerten zurückgreifen kann. Dazu kam dann noch Terje Rypdal, der sich ganz schnell eingefügt und uns alle weitergebracht hat. Er hat klanglich und musikalisch unheimlich viel zu bieten.
Wolf Kampmann: Die Musik der Platte klingt unheimlich kompakt. Live hingegen war eine gewisse Rollenverteilung zu beobachten, die dem kollektiven Gesamtcharakter keinerlei Abbruch tat. Unabhängig von den Instrumenten hatte ich den Eindruck, du bist für die Sphärik zuständig, Arild gibt dem Projekt das Jazz-Flair, Patrice steuert den World Beat bei, und Terje sorgt für eine gewisse rockige Bösartigkeit.
Markus Stockhausen: Zunächst einmal baut Arild die ganzen Sphären auf. Grundsätzlich ist es aber richtig, dass sich hier vier Charaktere ergänzen. Manchmal wiederstrebt es mir fast, wie sich bestimmte Dinge aufbauen. Dann muss ich auf einen Moment warten, an dem ich mich wieder mit meiner Kraft und Energie einpassen kann. Wenn Terje so ein wildes Gitarrensolo spielt, Patrice wie verrückt trommelt und ich dann auf dem Höhepunkt auf das Ganze draufsteige, sind das Momente, die ich natürlich auch nicht jeden Tag in dieser Intensität erlebe. Da kommt es zu Situationen, in denen man keine Rücksicht mehr auf sauberes Spiel oder irgendwas nimmt, sondern sich einfach nur noch für eine oder zwei Minuten total verausgabt.
Wolf Kampmann: Ich vermisse oft im Jazz, dass Musiker Rücksicht aufeinander nehmen. Bei euch hingegen scheint Rücksicht nicht erforderlich, da sich jeder voll entfalten kann, ohne dass er von den anderen ausgebremst würde. Eine Art blindes Einverständnis, das relativ selten geworden ist.
Markus Stockhausen: Das ist ein langer Prozess. Jede Persönlichkeit braucht so viel Raum, dass sie alles sagen kann, was sie sagen muss. Das führt manchmal dazu, dass ein Konzert länger dauert, als es geplant ist. Wenn Programme zu genau festgelegt sind, bleibt kein Raum, um Neues entstehen zu lassen. Es geht darum, Zwischenräume für spontane Einfälle zu nutzen. Da passiert oft das eigentlich Spannende.
Wolf Kampmann: Für das soeben Beschriebene hast du ja mal den Begriff Komprovisation in die Welt gesetzt. Trifft dieses Konzept auf Karta zu?
Markus Stockhausen: Eigentlich nicht. Bei Karta haben wir ein grobes Raster von Kompositionen, die in der einen oder anderen Reihenfolge immer wieder auftauchen. Das ist unser Repertoire. Komprovisation würde ich eher auf das ganz freie Possible-Worlds-Konzept anwenden. Ich lade immer wieder mal Musiker ein, mit denen ich ganz spontan musiziere. Dazu gehört auch mein Bruder Simon. Er ist eigentlich mein konstanter Partner bei Possible Worlds. Ich mache manchmal sogar Duo-Konzerte mit ihm unter dem Logo Possible Worlds. Das Prinzip von Komprovisation besteht aber darin, dass man einfach völlig frei miteinander spielt und Dinge unabgesprochen entstehen lässt. Dennoch würde ich es nicht Improvisation nennen, weil es das Normale transzendiert. Improvisation hat für mich immer den Beigeschmack, dass man mit bekannten Größen operiert. Ich möchte aber eher in extreme, neue, ungewohnte Bereiche vordringen. Das hängt natürlich immer von den Musikern und der konkreten Situation ab.
Wolf Kampmann: Andererseits bist du ja auch ein Spieler, der immer die große Form im Auge hat. Du weißt, wenn du spielst, genau, wohin du willst. Du entscheidest dich nur spontan für den Weg, auf dem du dahin gelangst.
Markus Stockhausen: Das ist ein mir innewohnendes Formgefühl. Ich habe ein Bedürfnis nach Harmonie. Das kann sich ganz unterschiedlich ausdrücken. Wenn ich mit Dhafer Youssef spiele, passiert das in einem tonal genau abgegrenzten Raum. Es kann aber auch extreme Bereiche von Dissonanz und Lärm einbeziehen. Das Grundmuster der Proportionen von Harmonieempfinden – Harmonie ist ja immer die Balance von Dissonanz und Konsonanz – muss aber gewahrt bleiben. Es geht immer darum, sich selbst in Extremsituationen als Mensch in einen Organismus einzubinden, der organisch ist. Es entspräche mir nicht, mich wie Cecil Taylor eine Stunde lang nur auf eine Form von Energie einzustimmen.
Wolf Kampmann: Deine Musik hat immer etwas Architektonisches. Es kann sein, dass du eine romanische Basilika baust, eine gotische Kathedrale oder ein barockes Palais, aber es bleibt immer Architektur, und zum Schluss steht das Ding irgendwie.
Markus Stockhausen: Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich Architekt geworden.
Wolf Kampmann: Musik ist ja immer ein Prozess. Wie kann man aber aus einem Prozess einen statischen Raum errichten? Das ist ja eigentlich ein widersprüchliches Prinzip.
Markus Stockhausen: Musik ist eigentlich ein Medium, dass in der Zeit abläuft. Trotzdem hat sie ein Fundament und bestimmte Strukturen, die ineinander übergehen. Das weiß man aus der Klassik. Im Jazz hat man sicher mehr mit Emotionen zu tun. In der zeitgenössischen komponierten Musik finden oft kristalline, mental gesteuerte Prozesse statt, die im Jazz gar nicht möglich wären. Deshalb existieren diese beiden Bereiche auch sehr gültig nebeneinander. In der Musik meines Vaters macht man sich unweigerlich mehr Gedanken um Struktur und Form. Man sitzt ein paar Monate am Schreibtisch und denkt über jeden Ton und jeden Rhythmus nach. Das ist etwas anderes, als einfach nur so daherzuspielen. Dafür hat diese spontan dahergespielte Musik den Vorteil, dass man nur mit Situationen zu tun hat, die echt und wahr sind. Improvisierte Musik ist eine empfundene Musik, die die Einheit von Denken und Fühlen zum Ausdruck bringt.
Wolf Kampmann: Aber wird das Prinzip der Improvisation im Jazz nicht überbewertet? In der Klassik wird viel subtiler improvisiert. Natürlich nicht vom Komponisten, aber die Noten sind ja nur eine Art Programm, aus der jeder Interpret machen kann, was er will. Wenn Nicolaus Harnoncourt die Vier Jahreszeiten aufführt, kommt etwas ganz anderes heraus, als wenn Gidon Kremer das tut. Es sind zwei völlig unterschiedliche Stücke Musik, weil mit winzigen Nuancen improvisiert wird, was das Ganze ja viel spannender macht. Die Improvisationen im Jazz bestehen schließlich auch oft nur aus aneinandergereihten Versatzstücken.
Markus Stockhausen: Das ist genau der Punkt, der mich weniger interessiert. Mich interessiert das wirklich Spontane. Sobald ich merke, es laufen vorprogrammierte Sachen ab, wende ich mich innerlich ab. Das ist mein ständiger Konflikt mit anderen Musikern. Jedes Rollenspiel lehne ich ab. Ich bin überzeugt, dass man auch in der Improvisation echte Polyphonie erreichen kann. Grundsätzlich befriedigt mich das nicht Vorhersehbare. Ich will dem Jetzt Ausdruck verleihen. Jeder will natürlich immer sein Ego ausdrücken, aber das ist nicht immer angebracht. Man muss einer höheren Idee dienen, die gerade im Moment entsteht. Karta bedeutet ja höhere Kraft oder Macht. Da muss man manchmal einfach zuhören, anstatt sich Gedanken über das nächste Solo zu machen. Ich sage ganz ehrlich, es ist nicht leicht, Mitspieler zu finden, die ähnlich denken. Karta finde ich geglückt, weil es auf dieser Platte wirklich Momente gibt, die ganz spontan sind.
Wolf Kampmann: Apropos höhere Kraft. Für mich ist es gar kein Unterschied, ob ich einen guten Blues höre oder ein gelungenes TechnoStück. Es ist immer Musik. Bei euch habe ich den Eindruck, ihr habt einerseits den internen Dialog mit den vier Persönlichkeiten, aber andererseits ein Wechselspiel aus Zugriffen in die Zukunft über die Technik und der Teilhabe an einer uralten Offenbarung. Ihr seid mit eurer Musik ein Punkt in der Mitte zwischen einer noch nicht zu ahnenden Zukunft und schon nicht mehr erinnerbaren Vergangenheit. Diese höhere Kraft ist hör- und spürbar und verknotet sich in eurer Musik.
Markus Stockhausen: Eine Person wie Arild – das zeichnet ihn vor vielen anderen aus – hat etwas ganz Archaisches, etwas ganz tief in sich Wohnendes. Seine Stücke kommen aus einem zeitlos gültigen Raum von Schwingungen und Gegebenheit. Sie verkörpert auch eine ganz bestimmte Kraft innerhalb der Gruppe. Dieses Erdverbundene. Er ist ja auch dieser Bär, der ganz fest auf der Erde steht. Mich mit diesen Persönlichkeitsstrukturen auseinander zu setzen ist ja auch die Herausforderung in dieser Gruppe. Arild, der gern isst, trinkt und raucht und dabei ein herzensguter Mensch ist. Patrice, der für sich ein Genie ist. Er kennt unheimlich viel Musik und steckt voller Energie. In vielen Konzerten ist er es, der den Aspekt Humor in unser Spiel bringt. Er kann aber auch sehr feinsinnig spielen und gut zuhören. Die beiden sind eben nicht so wie ich. Diese Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten kommt der Komplexität der Musik zugute.
Wolf Kampmann: Für mich warst du immer ein Musiker, der die Emanzipation des europäischen vom amerikanischen Jazz verkörpert. Bei Karta gibt es plötzlich einen Schulterschluss mit Miles Davis. Das kam überraschend.
Markus Stockhausen: Wenn diese elektrische Gitarre plötzlich erklingt, werden Assoziationen wach, die mich anders spielen lassen. Das ist eine Sprache, die andere entwickelt haben. So würde ich sonst nicht spielen. Aber in diesem Kontext kann ich plötzlich nicht anders. Platten wie Bitches Brew und In a Silent Way haben mich geprägt. Das schlummert dann für dreißig Jahre und kommt plötzlich unvermutet wieder raus. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Ebenen gibt, auf denen Dinge, die man gemacht hat, abgespeichert sind. Eine Art kollektives Unterbewusstsein. Im theosophischen Sinne spricht man von der Akasha-Chronik, in der alle Ereignisse, die es je gab, gespeichert werden. Das universale Gedächtnis, in der alle Schwingungen, die es je gab, noch vorhanden sind. Das ermöglicht es hellsehenden oder erleuchteten Menschen, in die Vergangenheit zu blicken. Oder sogar in die Zukunft. Zeit ist ja immer an unseren Raum gebunden. Es gibt aber andere Schwingungsebenen, in denen Zeit gar nicht existiert. Deshalb glaube ich, dass Dinge, die jemals ausgedrückt wurden, zum Beispiel alles, was Miles gespielt hat, noch vorhanden ist. Wenn man durch irgendeine Schleuse Zugang dazu findet, wie durch das Spiel von Terje Rypdal, bediene ich mich plötzlich einer Sprache, die ich vorher nicht gesprochen habe. Das ist auf der Platte mehrfach passiert. Sie kommt plötzlich aus mir heraus. Dann höre ich mich auf einmal Sachen spielen, von denen ich mir gewünscht hätte, Miles hätte sie in seinen letzten Jahren gespielt.
Wolf Kampmann: Es passiert sicher jedem einmal, dass er in einer Fremdsprache ein Wort benutzt, dass er eigentlich gar nicht kennt. Dann schlägt man nach und stellt fest, man hat es richtig benutzt. Irgendwo hat man es aufgefangen und unbewusst gespeichert. Manchmal habe ich auch das Gefühl, an meinem eigenen Körper Leiden zu erleben, die andere Menschen in der Vergangenheit erlebt haben. Das gibt mir das Gefühl, dass einmal empfundenes Leid niemals wirklich vergangen ist. Gerade in Bezug auf die jüngere deutsche Geschichte, auf den Holocaust, geht es mir ganz stark so.
Markus Stockhausen: Das liegt daran, dass wir alle miteinander verbunden sind. Es ist illusorisch zu glauben, wir wären voneinander getrennt. Das ganze Energiemuster Mensch ist aufs Innigste untereinander verbunden durch Erfahrungen, Gewohnheiten, Gebräuche, Sitten. Deshalb halte ich wenig davon, alte Sachen immer wieder aufzuwärmen, sondern man sollte sich immer weiter bewegen. Wir sind hier in Berlin. Ich finde es peinlich, wie sich das Thema Holocaust-Denkmal hinzieht. Man sollte endlich einen Weg finden, Vergangenheit und Gegenwart in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Wir haben diese Erfahrung in unseren Genen. Im kollektiven Unterbewusstsein ist das altes gespeichert.
Wolf Kampmann: Das hat ja oft etwas damit zu tun, dass man eine Schuld loswerden will, anstatt sich zu seiner Verantwortung zu bekennen.
Markus Stockhausen: Das Wegschauen nach hinten oder Projizieren in die Zukunft lenkt ab vom Jetzt. Aber genau im Jetzt sind die Probleme zu lösen.
Wolf Kampmann: Karta verkörpert ja das absolute Jetzt in diesem Kontinuum, das sich unendlich nach vorn und hinten erstreckt. Eine Kraft, der man sich nicht erziehen kann.
Markus Stockhausen: In einem meiner Lexika wird Karta auch mit Schöpfer übersetzt. Die Silbe Kar hat immer mit Aktivität zu tun. Derjenige, der ein Universum, eine Menschheit und alles, was existiert, initiiert, ist der Schöpfer. Dahinter stehen Gesetzmäßigkeiten, die uns Menschen in ihrer Gesamtheit niemals zugänglich sein werden, deren Ablauf wir aber jede Sekunde selbst erleben. Wir sind unmittelbar mit der Schöpfung verbunden. Wir glauben, wir existieren separat, aber wir sind doch Zellen und Einheiten in einem unglaublich komplexen System von Energien und Schwingungen, von Schöpfung.
Wolf Kampmann: Das ist etwas, was man von Kindern lernen kann. Für sie gibt es keine Alltäglichkeiten, sondern jeder Stein, jedes Blatt ist unmittelbarere Schöpfung. Sich dessen bewusst zu werden kann einem manchmal eine Gänsehaut erzeugen.
Markus Stockhausen: Wer das so erlebt, lebt wirklich im Jetzt. Dessen sollten wir uns auch bewusst werden, wenn wir Ängste haben. Ängste sind gespeicherte Informationen aus der Vergangenheit, projiziert in die Zukunft. Die lenken uns aber von der Gegenwart ab. Im Jetzt gibt es keine Angst, sondern nur Situationen, die man so oder so lösen kann.
Wolf Kampmann: Wobei Angst natürlich immer hilft, Lösungen zu finden.
Markus Stockhausen: Angst ist ein Motor. Auch ein Schutz vielleicht. Man wird plötzlich gewarnt, Fehler zu begehen, die man schon oft gemacht hat.
Wolf Kampmann: Du erwähntest deinen Bruder. Es ist ja in Deutschland eher untypisch und in Amerika ganz normal, dass Musikerdynastien entstehen. Jeder definiert sich über sich selbst, wäre aber ohne den familiären Hintergrund gar nicht denkbar. Wie wichtig ist für dich dieser Rückhalt?
Markus Stockhausen: Wie wichtig, kann ich gar nicht sagen. Er ist einfach da. Ich wurde in diese Situation hineingeboren und konnte von meinem Vater unheimlich viel lernen. Das zieht sich bis heute. Wir machen immer noch zusammen Musik, wenn auch viel weniger als früher. Ich spiele die Werke, die er für mich geschrieben hat und schätze und achte ihn sehr. Durch ihn wurde ich schon als Kind für musikalische Sprachen geöffnet. Es ist Tatsache, dass ich Teil dieser Familie bin und 15 bis 20 Jahre intensiv mit meinem Vater gearbeitet habe. Mit meinem Bruder habe ich einen Teilbereich, der sich mit der Arbeit meines Vaters überschneidet. Mitte bis Ende der achtziger Jahre haben wir viel gemeinsam gemacht. Das ging etwa bis 1993. Dann fing unsere Zusammenarbeit mit Aparis an. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, auf die wir uns beziehen können, sind aber im Charakter so extrem unterschiedlich, dass wir uns gut ergänzen. Sowie wir zusammenkommen, passiert etwas Kreatives.
Wolf Kampmann: Du hast sehr jung angefangen, Musik zu machen. Inzwischen bist du selbst Vater. Gibst du das so an deinen Sohn weiter?
Markus Stockhausen: Ich würde es gern, aber er sträubt sich mit Händen und Füßen. Er ist anders veranlagt als ich. Bis jetzt zeigt sich nicht, dass ein Musiker in ihm steckt. Er hat kein von Natur gegebenes gutes Gehör. Dafür hat er andere Fähigkeiten, die er zum Ausdruck bringt. Mir bleibt gar nichts übrig, als das zu akzeptieren. Ich will ihn ja in keiner Weise verbiegen und vergewaltigen. Ich würde mir wünschen, dass er die Freiheit, die im musikalischen Ausdruck steckt, noch entdeckt. Das ist einfach eine der freiesten, intimsten und auch schwierigsten Umgangsformen, die es gibt. Ich habe oft gefühlt, dass es, wenn man mit einem Menschen zusammen intensiv Musik macht, vielleicht noch intensiver ist, als wenn man mit einer geliebten Frau zusammen ist. Aber auch viel kompromissloser. Die ganze Persönlichkeit des anderen entblättert und offenbart sich auf der Stelle. Man erkennt sofort alle Defizite, aber auch seinen Einfallsreichtum und seine Fantasie. Seine Gefühlswelt und seine Ausdrucksfähigkeit. Nicht zuletzt erkennt man dabei auch schmerzhaft seine eigenen Begrenzungen. Wie mein Vater sagt, Musik ist die höchste Schule.
Eher im Hintergrund hat er jedoch seit über einem Jahrzehnt unsere Klanglandschaft entscheidend mit geprägt. Sein Trompetenton ist markant wie kaum ein anderer in Europa. Nicht nur sein Ton, auch die Klarheit seiner Sprache. Vor vier Jahren veröffentlichte Markus Stockhausen zeitgleich drei CDs. Danach wurde es stiller um ihn. Auf seiner neuen CD Karta – außer Stockhausen sind Arild Andersen, Patrice Héral und Terje Rypdal daran beteiligt – erreicht sein Spiel eine neue Qualität, sein Ton eine neue Geschmeidigkeit, seine Sprache ein neues Level von Stringenz.