Mit Karlheinz Stockhausen
Ich wuchs im Hause meiner Mutter in Köln-Marienburg auf. Schon früh, ich war etwa sieben Jahre jung, hatten sich meine Eltern getrennt. Mein Vater kam zwar noch einige Male zum Übernachten und zum Besuch, aber er hatte sich ein neues Haus gebaut im Bergischen Land, wo ich ihn in den Jahren darauf unzählige Male besuchte; vor allem an Wochenenden, oft mit Freunden, und wir konnten dort herrlich im Wald spielen, Hütten bauen und Sauna machen …
Aus den Jahren davor, als meine Eltern noch zusammen lebten in Köln-Braunsfeld, habe ich wenige Erinnerungen an meinen Vater. Er war meist außer Haus. Mit vier Jahren (1961) dufte ich bei seinem Stück ORIGINALE mitwirken, ein Fluxus-Happening, das mehrmals in einem kleinen Kölner Theater aufgeführt wurde, als Junge, der Bauklötze so hoch stapelt bis der Turm umfällt. Ich war umgeben von elektronischer und akustischer Musik, Bildern von Mary Bauermeister und mehr. Als ich fünf war verbrachten wir mit der ganzen Familie sechs Monate in den USA, in Long Island bei New York. Mein Vater folgte einer Einladung eines Amateur-Komponisten, der eigentlich Broker war, viel Geld verdient hatte und sich ein schlossähnliches, ehemaliges Rothschild-Haus kaufte, wohin er uns alle einlud. Mein Vater gab ihm dafür Kompositionsunterricht.
Spannend wurde die Zeit mit meinem Vater, als er sich mehr und mehr für mich als Musiker interessierte. Mit sechs Jahren hatte ich angefangen Klavier zu spielen, mäßig würde ich sagen, mit keinem gesteigerten Interesse, aber als ich mit 12 Jahren die Trompete nahm, fing ich Feuer.
Bald spielte ich in mehreren Bands, im Blasorchester, machte bei weihnachtlichen Turmmusiken mit, bei Prozessionnen der Kirche, spielte Bläserquintett, Big Band, Tanzmusik und mehr. Meine Idole waren berühmte Jazztrompeter, erst Louis Amstrong, dann Freddie Hubbard, später Miles Davis und Trompeter wie Art Farmer, Palle Mikkelborg, Kenny Wheeler und andere, später natürlich auch der “König der klassischen Trompete” Maurice André.
Erste Konzertreisen
Als ich sechzehn Jahre alt war nahm mich mein Vater mit nach Paris, er studierte dort mit dem Hochschulorchester HYMNEN ein, und ich durfte mich neben den 3. Trompeter setzen und mitspielen. Mit 18 nahm er mich mit zu einer Aufnahme nach London, wo wir sein Textstück ZUGVOGEL – meine erste Erfahrung mit intuitiver Musik – für Chrysalis Records aufnahmen, das eigentlich ein Pop-Label war, aber die wollten meinen Vater unbedingt haben.
Im Frühjahr 1976, während meine Schulzeit am Musikgymnasium in Köln zu Ende ging, begannen bereits im WDR in Köln die Proben für SIRIUS, ein großes Werk für vier Solisten und elektronische Musik, bei dem ich mitwirken durfte. Am 4. Juli 1976 spielten wir die Uraufführung des ersten fertigen Teils in Washington im Einstein Spacearium bei der 200-Jahrfeier der USA. Darauf folgte eine erste internationale Tournee nach Japan, Italien und Frankreich. Das Werk wuchs dann bis zu seiner vollen Länge von 96 Minuten und wurde so 1977 in Aix en Provence in dem wunderschönen Kloster St. Louis uraufgeführt.
Ich will noch hinzufügen, dass wir als Kinder immer wieder mit auf Konzertreisen mit unserem Vater gehen durften, abwechselnd. Ich erinnere eine Europa Tour 1967 mit MOMENTE mit der unbeschreiblichen Sopranistin Martina Arroyo. Dann durfte ich eine 7-wöchige Reise mit meinem Vater als Dreizehnjähriger nach Bali und Japan machen, wo er die Musik bei der EXPO ’70 in Osaka für den deutschen Pavillon konzipiert hatte. Das war die große Welt. Morgens streunte ich bei den 180 Pavillons aller Länder herum und sog Musik und kulturelle Eindrücke aus der ganzen Welt in mich auf, nachmittags hörte ich seine Musik, die von mehr als 20 Interpreten, auch mit viel elektronischer Musik, dargeboten wurde. Tiefe und wunderbare Eindrücke!
Andere Konzertreisen, 1969 in den Libanon, wo er Konzerte in den fantastischen Grotten von Jeita gab, mit Besuchen auch nach Baalbek und Palmyra, oder 1972 nach Persien, wo er beim Shiraz Festival zwei Wochen lang konzertierte, auch in der unvergesslichen, antiken Ruinenlandschaft von Persepolis, werde ich nie vergessen.
Michaels Reise um die Erde
Mein Vater hatte Vertrauen gefasst in mein musikalisches Talent, hatte mich bei der Arbeit an SIRIUS kennengelernt, lud mich ein mitzuwirken bei mehreren Aufführungen von STERNKLANG in Paris und Bonn, und wagte es dann 1978 das große Trompetenkonzert MICHALEs REISE UM DIE ERDE für mich zu schreiben, das im Oktober 1978 mit dem Ensemble Intercontemporain in Donaueschingen uraufgeführt wurde, mit Folgekonzerten in Straßburg und Paris, im damals neu entstandenen IRCAM unter der Schirmherrschaft von Pierre Boulez, der übrigens mein Patenonkel war.
Ich sollte das Stück mit Bewegungen der Trompete dirigieren, leitete so die ersten Proben in Paris allein. Mein Vater hatte mich sozusagen vorausgeschickt, dazu kam das neue Französisch … oje, ich war wohl ziemlich überfordert … Pierre Boulez kam herein, sah mich proben und meinte: “So geht das nicht”. Er rief meinen Vater an und sagte er solle sofort kommen und das Stück selbst dirigieren. So kam es, Peter Eötvös übernahm die Klangregie, die eigentlich mein Vater machen wollte. Erleichtert konnte ich mich nun ganz auf die ohnehin schwierige Trompetenpartie konzentrieren.
Was für Erlebnisse! Hochbegabte Musiker um mich herum, und ich 21-jähriger Jungspund dazwischen … Meine Trompetenausbildung in Deutschland bei Robert Platt war sehr solide gewesen, aber von modernen Techniken wusste er nicht viel, ich musste mir das woanders suchen. Pierre Thibaud, den ich 1978 in Paris kennenlernte, war ein wunderbarer Lehrer, andere folgten.
Den Jazz und die Improvisation hatte ich immer gleichzeitig mit Klassik und zeitgenössischer Musik gespielt. Der wunderbare Manfred Schoof war mein Lehrer für Jazz in Köln, und diese “andere Art” mit dem Instrument umzugehen verlieh mir eine Sicherheit und Fähigkeiten, die mir bei der Musik meines Vaters halfen. In der Improvisation, frei von Noten, konnte ich Sachen spielen, die ich, wenn ich sie notiert gesehen hätte, nie hätte spielen können. Oft war ich über diesen Unterschied und das andere Spielgefühl erstaunt, lernte dann aber mit den Jahren die verschiedenen Musizierweisen in mir zu vereinen und sah, wie sich die verschiedenen Stile gut ergänzten.
Mailänder Scala
In den folgenden Jahren entstand sehr viel Musik für Trompete, weil mein Vater den Opernzyklus LICHT begonnen hatte. MICHAELS REISE war der erste Teil, den er mit seiner “Superformel” komponierte, und die Trompete sollte als Instrument des MICHAEL eine tragende Rolle spielen. Die Uraufführung des DONNERSTAG aus LICHT 1981 an der Mailänder Skala war der erste ganz große Höhepunkt von LICHT. Die ganze Oper auswendig spielen, und als Darsteller mit Kostüm und choreographierten Bewegungen Trompete spielend auf der Bühne agieren, das war wirklich etwas Neues!
Zehn Wochen lang lebten wir in Mailand, keine schöne Stadt im Winter, grau, regnerisch… Proben den ganzen Tag. Ich lernte sehr viel, auch italienisch. Die Orchestermusiker waren freundlich zu uns, die Bühnenbildnerin Gae Aulenti und der Regisseur Luca Ronconi große Persönlichkeiten. Mein Vater stritt sich immer wieder mit der Intendanz, musste um vieles kämpfen, gab Interviews … die Tage waren vollgepackt.
Neun Aufführungen dann … am Tag der Uraufführung war ich krank mit Bronchitis; ich hatte mich völlig ausgepowert in den Tagen davor bei den Generalproben der einzelnen Akte – an einem Tag wurde aus bühnentechnischen Gründen der 2. Akt – mein Trompetenkonzert – gleich dreimal hintereinander gespielt. In einer großen, rotierenden Erdkugel mit neun Meter Durchmesser und schräger Achse, spielte ich die verschiedenen Stationen von MICHAELSs REISE aus verschiedenen Öffnungen heraus; pure Akrobatik, die ich aber toll fand.
Konzerte weltweit
Danach spielten wir im Stockhausen-Ensemble viele Konzerte in der ganzen Welt. Der TIERKREIS, in einer Trioversion, wurde von Kathinka Pasveer an der Flöte und Suzanne Stephens an der Klarinette, mit mir an der Trompete und am Klavier, sicher 100 Mal aufgeführt.
1984 wurde die Oper SAMSTAG aus LICHT im Palazzo dello Sport, einer riesigen Halle in Mailand, uraufgeführt. Darin hatte ich eine kurze, halsbrecherische Partie zu spielen, den OBERLIPPENTANZ für Piccolo-Trompete. Halsbrecherisch nicht nur, weil das sehr schwer zu spielen war, sondern weil ich gleichzeitig auf einem Fernseh-Dollie ohne Geländer durch die Halle gefahren wurde, rauf und runter, im Streit mit zwei Luzifer-Figuren auf vier Meter hohen Stelzen, vor dem riesigen, vertikal aufgebauten Blasorchester, der Michigan Symphony Band. Doch ich war “in meinem Element”.
1985 wurde DONNERSTAG aus LICHT noch einmal mit viel Aufwand bei der Oper Covent Garden in London inszeniert. Die musikalische Qualität war sehr gut. Leider waren nicht mehr alle Sänger aus Mailand dabei, sodass wir viel neu einstudieren mussten.
Bei der nächsten Oper MONTAG aus LICHT mochte ich nicht mitmachen, es wurde mir zuviel … Mein Vater lud meine Schwester Majella und mich aber 1986 zu einer wunderbaren Indienreise ein, auf der wir, nach drei Konzerten in Kalkutta, Bombay und Neu Delhi, die indische Kultur kennenlernen durften.
1989 dann HYMNEN, Solistenversion im Barbican Center in London – ein weiteres Kapitel, bei dem ich zusammen mit meinem Bruder Simon, Andreas Boettger und Ingo Metzmacher Musik erfand, die zu der elektronischen Musik meines Vaters passte. Öfter spielten wir diese Version, auch bei den Festspielen in Salzburg.
Dann folgten Diskussionen über die nächste Oper DIENSTAG aus LICHT mit dem Thema Krieg, der Konfrontation zwischen Michael und Luzifer – ich zögerte da mitzumachen (inhaltlich), willigte aber schlussendlich ein. Es entstanden interessante Partien für drei und auch neun Trompeten und Posaunen, auskomponierte und mit Bewegungen inszenierte Duelle zwischen den Instrumentengruppen.
Dazu PIETÀ, für 1/4 Ton Flügelhorn, Sopran und Elektronische Musik. Die Uraufführung war 1993 bei der Oper Leipzig. PIETÀ entstand 1991 in Schweden in einem Blockhaus, wo nur mein Vater und ich 10 Tage verbrachten. Er schrieb täglich neue Partien, und ich machte Vorschläge für melodische Fragmente mit 1/4 Tönen, die er einbaute. Ich übte, joggte, kochte für uns beide. Ein Frieden war da. Eine schöne, intime Zeit, vielleicht die letzte, wo wir uns so ganz nahe waren.
1995 die Gründung des Trompetenquartetts “Die Michaelstrompeter”, für das mein Vater das Stück TRUMPETENT schrieb, ein kurioses Werk mit Raumbewegungen der vier Trompeter, bei dem wir am Schluss in einem Zelt zusammenkamen und nur mit den Trichtern aus Löchern im Zelt das Finale spielten. Beim Schlussapplaus der Uraufführung 1996 in der Kölner Philharmonie kam mein kleiner Sohn Arjan, gerade mal drei Jahre alt etwa, auf die Bühne gerannt, lief ins Zelt, und kroch auf dem Boden unter der Zeltplane hervor und schaute ins Publikum – schallendes Lachen und Applaus allerseits, nur mein Vater war etwas irritiert.
1998 spielte ich für “EMI Classics” zum 70. Geburtstag meines Vaters die CD “Stockhausen spielt Stockhausen” ein. Darauf präsentierte ich auch die Trompetenversion von IN FREUNDSCHAFT. Dieses Stück empfand ich rückblickend mit als das schwierigste Werk zu spielen, auch in Bezug auf das Auswendigspielen. Aber ich war ehrgeizig und wollte auch auf der Trompete schaffen, was sonst Klarinette und Flöte viel leichter spielen konnten. Für dieses Stück hatte ich extra eine Es-Trompete mit Quartventil entwickelt. Die Uraufführung fand 1998 während der ersten Stockhausen-Kurse in Kürten statt.
Eigene Wege
2001 kam es zu einem Bruch mit meinem Vater. Ich spürte deutlich, dass die Zeit gekommen war, ganz meine eigenen Wege zu gehen. Seine Persönlichkeit war sehr stark und oft auch kontrovers, ich suchte den Abstand. Die musikalischen Erfahrungen hatte ich umfassend ausgelotet und hatte keine Lust bei neuen Kompositionen mitzuwirken. Ich teilte es ihm mit, zufälligerweise eine Woche vor dem Zeitpunkt, als mein Vater in Hamburg gerade einen Faux Pas mit der Presse hatte, als er sich zu den schrecklichen Ereignissen des New Yorker 9/11 ungeschickt äußerte und zudem von der Presse falsch zitiert wurde. Alles war in Aufruhr, und meine Absage weiter mitzuspielen kam in diesem Tumult noch dazu.
In den folgenden Jahren lebten wir uns auseinander, leider, das war nicht meine Absicht gewesen. Ich machte verschiedene Angebote zu Gesprächen, die nicht auf Resonanz stießen. Er war innerlich enttäuscht und verletzt, dass ich nicht weiter mit ihm Musik machen wollte, und ich war aber auch zu scheu um einfach zu ihm zu fahren und alles zu klären. Es kamen dann wenige steife und mehr höfliche Besuche zustande, auch mit meinem Sohn Arjan, den ich natürlich weiter in Kontakt halten wollte mit seinem Großvater, aber so endete unsere Beziehung mit einem Fragezeichen, als er am 5.12.2007 ganz plötzlich verstarb, während ich auf einer Tournee weit weg in Chile war.
In Träumen begegneten wir uns nachher öfter, sehr versöhnlich, das tat gut und brachte uns in eine Harmonie, jenseits von Raum und Zeit, die ich noch heute empfinde.
Dankbar bin ich Marco Blaauw, der meine Trompeter-Rolle im Ensemble seit 2002 übernahm und auch noch heute bei den Stockhausen-Kursen in Kürten unterrichtet.
Meinem Vater bin ich unendlich dankbar für viele unvergessliche Erlebnisse und wertvolle musikalische Erfahrungen, tief berührende Momente, z.B. wenn ich neben ihm Trompete blies während er dirigierte. Da war eine tiefe Einheit, menschlich und musikalisch. Er war ein sehr großzügiger Mensch, mit unbeschreiblichem Humor, und ein Perfektionist in jeder Hinsicht. Das war für seine Mitmenschen manchmal nicht leicht, aber immer anspornend, und wer die Kraft hatte konnte sich in seiner Nähe vielseitig weiterentwickeln.
Ein großes Danke an Dich, Papa, Karlheinz, Sirius.
Ich denke, jeder hat seine persönlichen Fähigkeiten und Talente und wird immer den Versuch machen, diese zu entdecken und zu entfalten. Was einer hervorbringt, ist allen anderen ein Zeichen für die in ihm wohnende Kraft – sie ist nicht sein Verdienst, sondern ein ihm gegebenes Geschenk, das er behüten, aus dem er etwas machen soll, damit die anderen daran teilnehmen können. Was meine Mitmenschen erfinden, lässt mich ahnen, welch wunderbare Kraft in allem wirkt und wie sehr wir diese Kraft noch daran hindern, sich in allen sichtbar zu entfalten als der eine schöpferische Geist der Erde. Ich weiß, dass die Menschheit phantastisch begabt, dass ihre Bestimmung schöpferisches Leben ist – und die Liebe zum Anderen mit seinen persönlichen Eigenheiten und Erfindungen.“
Karlheinz Stockhausen, aus seiner Schrift “Anstelle eines Vorwortes”, 4.9.1960, in Texte Band 1, © Stockhausen-Verlag
Die Werke, die im Zusammenhang mit mir für Trompete entstanden, liste ich hier kurz auf. Sie sind ausführlich auf dieser Webseite zu finden.
SIRIUS
daraus ARIES
aus der OPER DONNERSTAG aus LICHT:
MICHAELS REISE UM DIE ERDE
daraus EINGANG UND FORMEL
MISSION UND HIMMELFAHRT
HALT
DONNERSTAGS GRUSS
MICHAELS RUF
MICHAELS JUGEND
daraus KINDHEIT, EXAMEN
MICHAELS HEIMKEHR
daraus FESTIVAL
DRACHENKAMPF
VISION
ABSCHIED
aus der OPER SAMSTAG aus LICHT:
OBERLIPPENTANZ
aus der OPER DIENSTAG aus LICHT:
DIENSTAGS GRUSS
INVASION – EXPLOSION
PIETÀ
TIERKREIS Trio Version
IN FREUNDSCHAFT
TRUMPETENT
EUROPA GRUSS
KADENZEN für die Trompetenkonzerte von Joseph Haydn
und von Leopold Mozart