Fragen über intuitive Musik von Sabine Loh an Markus Stockhausen
SL: Wenn man intuitiv musiziert, was spielt sich dann mental-kognitiv ab? Denkt man dann in Tönen? Hört man gleichsam intuitiv „vorher“ schon die Töne, die man spielen wird und will?
MS: Das ist bei allen MusikerInnen wahrscheinlich unterschiedlich, je nach instrumentaler Beherrschung, Hörerfahrung und Bewusstsein. Ich weiss eigentlich immer, welche Töne ich spielen will oder werde, meist höre ich sie kurz vorher innerlich, da man bei der Trompete auch technisch den Körper immer auf die Töne, die Tonlage einstellen muss. Aber es gibt auch Phasen, wo das kognitive „Wissen“ was ich mache unbedeutend wird und die Musik einfach fließt. Im Idealfall ist alles beieinander da: ein kreativer „Flow“ von Ideen, die unmittelbar, aber bewusst umgesetzt werden.
SL: Nadia Boulanger hat einmal gesagt: „Bleibt etwas im Sieb zurück oder ist alles nur fließendes Wasser? Wasser, das nur weiterfliesst, ist verlorenes Wasser.“ — Was bleibt also zurück, wenn man intuitiv spielt?
MS: Der Vogel, der fliegt, ist er umsonst geflogen? Nein, er ist Ausdruck des Lebens. So ist es mit allen Tönen, Klängen, Musiken, sie erklingen und verklingen. Ausgereifte und gelungene Kompositionen haben ein längeres Leben als flüchtige Improvisationen, aber auch das hat sich heutzutage verändert, weil auch Improvisationen aufgenommen werden können und somit lange leben, Jahrzehnte später wieder nachgehört werden können.
SL: Du möchtest Dich bei der intuitiven Musik von allen Vorgaben befreien. Du möchtest dadurch den größten Freiheitsgrad erreichen. Nadia Boulanger sagte: “Man muss eine Achtung vor sich selbst haben, dass man es (ganz ohne Arroganz) ernst nimmt, dass man existiert. Wenn man es nicht ernst nimmt, zu existieren, kann man nicht gut spielen, nicht gut denken, nicht gut leben.” Was bedeutet es für dich, sich ernst zu nehmen?
MS: Sich von allen Vorgaben befreien? Das ist nicht leicht, weil alles Gehörte und Gespielte in uns ein Eigenleben führt, es schwingt nach, ist irgendwo da. Aber das ist ja auch gut so, es bildet die Grundlage des freien Spiels.
Sich ernst nehmen oder nicht ernst nehmen – beides trifft bei mir nicht zu. Zu sich stehen, ja, auf natürliche Weise. Das was sich in mir regt, was sich zeigt, das versuche ich auszudrücken in Tönen, Kompositionen. Das hat natürlich eine Vorgeschichte der Selbstfindung und des Erkennens, dass das Eigene wertvoll ist und neben all dem Anderen bestehen darf. Mein Vater war mir da ein großes Vorbild: Wie selbstverständlich er die verrücktesten Ideen in seiner Musik umsetzte und solange nicht aufgab, bis sie seiner Vision entsprechend Wirklichkeit wurden.
Das würde ich allen Menschen wünschen: ein natürliches, gesundes Selbst-Bewusstsein, ohne Eitelkeit oder Stolz, ohne Scheu oder Ängste.
SL: Paul Valéry soll einmal gesagt haben „Wer seinen Traum aufschreiben will, muss aufgewacht sein.“
MS: Ein guter Satz!
SL: Wie ist es beim Komponieren? Ersinnt man zunächst intuitiv, d.h. in und mit seiner musikalischen Phantasie ein Stück und geht dann in einen rationalen, technischen mentalen Zustand über, um das Stück aufzuschreiben?
MS: Auch dies dürfte für jeden, der /die komponiert, anders sein. Manche gehen da sehr rational heran, andere lassen einfach Ideen fließen ohne jede Reflexion. Es gibt Kompositionstechniken, die man erlernen kann (hab ich nie studiert), die eine gewisse Qualität der Komposition garantieren (gutes Handwerk), die aber keine Gewähr sind für gute und seelenvolle Musik, die es vermag andere zu berühren.
Bei mir fließt alles zusammen, mein bescheidenes Wissen, das intuitive, innere Hören der Musik, das Ausarbeiten, Weiterentwickeln von Ideen, die Betrachtung des Erreichten. Mit dem Kompositionsprogramm im Computer hat man die wunderbare Möglichkeit, das Komponierte anhören zu können und sein eigener Lehrmeister zu sein, und solange an der Komposition zu feilen, bis sie der inneren Vorstellung und dem eigenen Schönheitsideal entspricht.
SL: In Wuppertal hast Du gesagt, durch das intuitive Musizieren wird man wach. Man muss hellwach sein, um ganz frei zu spielen. Wie passt das zusammen – Intuition und Wachheit?
MS: Ja, der Geist muss ganz wach sein, sonst dämmert man und kann gerade im Zusammenspiel mit anderen nicht alles wahrnehmen, auf das man sich idealerweise sehr bewusst beziehen sollte. Es ist wirklich herausfordernd alles mitzubekommen, was die anderen spielen und gleichzeitig eigene Töne, Klänge zu erfinden, die sich musikalisch optimal in das Geschehen einfügen, oder die eine Führungsrolle einnehmen zu rechten Zeit und eine neue Richtung angeben.
SL: Für Nadia Boulanger hatten Menschen wie etwa Mozart oder Bach eine ganz eigene Ordnung des Denkens, die sie in eine jeweils eigene Sphäre des Emotionalen zieht, eine eigene sinnliche und technische Aktivität. Wie hängen für Dich Denken, Emotion, sinnliche und technische Aktivität zusammen?
MS: Jeder Mensch ist ein eigenes Universum. Er trägt sozusagen eine eigene kosmische Schöpfungsformel in sich. Bach und Mozart waren ganz aussergewöhnliche Musiker, die unsere Kultur über weite Zeiträume zu prägen vermochten. Hoch entwickelte Seelen sozusagen, gekommen mit einer besonderen Aufgabe uns alle zu führen. Wie viele andere auch.
Aber jeder Mensch trägt dieses kosmische Potenzial in sich, wie ein Same. Doch nur sehr wenige erkennen ihr Potenzial und setzen alles daran es weiterzuentwickeln. Oft ist das Umfeld, in das man hineingeboren wird, mitentscheidend bei der Entwicklung der Anlagen. Viele Hochbegabte wurden glücklicherweise von ihren Eltern oder bestimmten Lehrern, die ihre Begabung erkannten, extrem gefördert. Andere Begabungen bleiben brach liegen, sind aber doch da und können später zum Erblühen kommen. Entscheidend ist, was wir wollen: Entwicklung kann dann stattfinden, wenn ein innerer Wille erwacht, die Chance zu ergreifen und mit viel Fleiß die eigenen Anlagen zur Entfaltung zu bringen.
Manchen großen Musikern scheint alles „in die Wiege gelegt” worden zu sein. Wahrscheinlich aber haben sie sich früher schon genügend ausgebildet, sodass sie hier „sofort loslegen“ können.
Andere sind vielleicht medial sehr begabt, und ihre Aufgabe ist es, Kanal zu sein für andere große Geister, die durch sie neue Musik in diese Welt bringen. Der göttlichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, alle Spielformen von Existenzen sind denkbar – und erscheinen.
SL: Bei allem technischen Training zur Beherrschung eines Instruments als auch zur Komposition ist für Nadia Boulanger die Fähigkeit Musik zu machen, strukturell gesehen von größter Einfachheit. Sie verweist dabei jenseits allen Trainings und Studiums auf die musikalische Intuition, die man sich unbedingt bewahren und daran festhalten muss. Damit stellt sich die Frage, wie man sich seine Intuition jenseits allen technischen Strebens erhält und diese kultiviert. Welchen Stellenwert hat für Dich die musikalische Intuition und wie nährst Du diese?
MS: Angelegt ist die Intuition in jedem. Das einfache Erspüren, Hinhorchen auf den inneren Sinn: Das, jetzt DAS, oder DIES … oder JENES NICHT. Dieses Hinhorchen, Lauschen, Wahrnehmen des inneren Sinnes, eines oft zarten Gefühls – das kann und muss kultiviert werden, z.B. durch Meditation. In der absoluten Stille, befreit von äußeren Einflüssen – zumindest für eine Weile -, erscheinen innere Impulse, die die Richtung angeben.
Wenn wir dieses Gefühl immer besser kennenlernen, kann es zur Gewohnheit werden, neben dem rationalen Denken und Abwägen dieses Gefühl miteinzubeziehen, oder das Intuitive sogar zum inneren Kompass zu machen.
Dann verhält man sich vielleicht anders als es die Umgebung erwartet, spielt andere Musik, lebt anders, man beginnt sich frei zu verhalten, ungebunden durch Konventionen oder gesellschaftliche (oder musikalische) Regeln, sie aber kennend und nach Belieben auch anwendend.
Dazu gehört, sich immer wieder möglichst frei von allen äußeren Einflüssen zu halten, wie in der Übung der Stille, oder in gewählten „Auszeiten”. Es kann aber auch gelingen durch reine Konzentration auf etwas Bestimmtes, eine Komposition, eine Improvisation: Die völlige Konzentration auf etwas schließt alles andere aus – auch das eigene Denken an anderes – und schafft diesen nötigen Freiraum. Es ist eine Fähigkeit, die man sich im Laufe der Zeit erwirbt, z.B. durch unzählige Erfahrungen mit intuitivem Spiel. Auch da war mir mein Vater ein beeindruckendes Vorbild: Er hatte eine ungeheure Fähigkeit zur Konzentration.
SL: Für Nadia Boulanger sind Konventionen Bezugspunkte, die der Entwicklung eine gewisse Form geben, und wenn man lange in der intellektuellen Ordnung gelebt hat, tritt man wieder in die intuitive Ordnung ein. Wenn es aber gar keine intellektuelle Ordnung im Intuitiven gibt und gar nichts Intuitives in der Intellektualität, dann fehlt etwas. Wie siehst Du das Wechselspiel zwischen rational intellektueller Ordnung und Intuition?
MS: Beide ergänzen sich, und je nach Reife sind sie weit entwickelt. Idealerweise sind sie im Gleichgewicht, Herz und Kopf vereint auf harmonische Weise.
20. Mai 2023
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CDs mit rein intuitiver Musik, eine Auswahl:
Aqua Sansa – mit Jasper van’t Hof (Fran Records, 1980)
Cosi lontano … quasi dentro – mit Gary Peacock u.a. (ECM 1988)
Possible Worlds (CMP 1995)
Solo 1 (Aktivraum 2000)
Electric Treasures (Aktivraum 2008)
Spaces and Spheres (Wergo 2012)
Beam – Sensitive Material (MLB 2012)
Ritual – Moving Sounds (Aktivraum 2015)
Hamdelaneh – mit Alireza Mortazavi (Darc Compagnion, 2019)
Wild Life – (Sony/Okeh, 2020)
Tales – Markus Stockhausen Group (o-tone-music 2020)
Free Spirits – mit L. Capra Vaccina, A. Mortazavi (Darc Compagnion, 2022)
Rêverie – mit Luca Formentini (Darc Compagnion, 2023)