Die freie Musik des Übergangs
Rezension von „Far Into The Stars“ im Jazzpodium, Oktober 2017
Markus Stockhausen, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, ist über die letzten Jahrzehnte hinweg immer wieder mit hoch interessanten Band-Projekten an die Öffentlichkeit getreten. Das Ensemble „Quadrivium“, mit dem er sein aktuelles Album „Far Into The Stars“ eingespielt hat, ist darunter eines der spannendsten und inzwischen auch langlebigsten.
Bereits seit dreizehn Jahren tüftelt das Trio, das durch den Einstieg des Cellisten Jörg Brinkmann vor zwei Jahren zum Quartett angewachsen ist, an einem inzwischen praktisch einzigartigen Soundkonzept: einer Musik des Übergangs, im Raum schwebend, die einem im Hören eine Vorstellung vom Überwinden des Gegenwärtigen gibt – und damit von Freiheit. Voller spiritueller Kraft, aber nicht esoterisch; den ganzen Raum flutend, aber gesichert in großer Tiefe verankert; leuchtend, aber nie blendend; unaufdringlich, aber handwerklich zu jedem Zeitpunkt von allerhöchster Brillanz. „Der Begriff der Freiheit“, erklärt Markus Stockhausen im Gespräch, „hat eine große Bedeutung für mich. Das ist, wonach ich in der Ausdrucksform dieser Musik suche: dass man sich frei fühlen darf, dass man immer wieder in einen wirklichen schöpferischen Prozess hineinfindet.“
Musik exakt im Augenblick ihres Höhepunktes, also genau dann, wenn sie sich rückhaltlos öffnet, dem Hörer zu überantworten – es gibt derzeit nur eine Handvoll durchaus unterschiedlicher Ensembles wie das „Tarkovsky Quartet“ oder eben „Quadrivium“, denen dieses Kunststück gelingt. Dass die Musik dabei zumeist eher entschleunigt, bisweilen sogar fast meditativ ist, liegt auf der Hand. Schließlich geht es um das Herausarbeiten des Momentums und darum, ihm die Zeit und den Raum zu geben, sich nachvollziehbar zu entfalten.
Das braucht musikalische Meisterschaft. Einen Schlagzeuger wie Christian Thomé beispielsweise, der auf der permanenten Suche nach wirklicher Originalität sich völlig klischeefrei an nichts anderem zu orientieren scheint als an der Musik selbst. Oder einen Pianisten wie Angelo Comisso, dessen von Stockhausens sich behutsam steigernden Trompetenspiel wie ein Juwel eingefasstes Intro zu „Passacaglia“, einer Eigenkomposition, sich so nah an reiner Schönheit bewegt, dass es einem den Atem raubt. In diesem intimen Zusammenspiel, in das sich sukzessive die anderen Instrumente förmlich hineinschmiegen, ist wirklich jeder einzelne Ton von Bedeutung, perfekt gesetzt und ausformuliert. Und Cellist Brinkmann schließlich vermag es, seinem Cello nicht nur einen faszinierenden Klangreichtum zu entlocken, sondern es umgekehrt von außen mit Klangerweiterungen geradezu aufzuladen. Man hört bei ihm buchstäblich Klänge, die im Instrument selbst überhaupt nicht angelegt sind, weil man sie erst mal denken können muss, bevor man sie spielt. So erwies sich das vermeintliche Risiko, einen ganzheitlichen Organismus, mit dem hervorragenden Album „Lichtblick“ als Höhepunkt, zu öffnen und zum Quartett zu erweitern, als Glücksfall. Markus Stockhausen erinnert sich: „Ich habe mich gefragt, welches vierte Instrument zu uns passen könnte. Angelo Comisso hat dann das Cello als Möglichkeit ins Gespräch gebracht. Wir hatten uns einige Cellisten angehört, als Christian Thomé uns auf Jörg Brinkmann hinwies, der mir auch bereits bekannt war. Ich hatte ihn auf einem Festival in Rabat gehört, auf dem ich eingeladen war. Schon damals hatte er mich beeindruckt. Als wir es dann ausprobiert haben, war sofort klar, noch am ersten Tag, dass das wunderbar funktionieren würde.“ Es war die perfekte Erweiterung.
Markus Stockhausen selbst ist ohnehin ein Klangästhet, bei dem das großartige Handwerk immer die Intuition gestützt hat und nicht umgekehrt. Die im wahrsten Sinne des Wortes Ton-Kunst des Ensembles basiert maßgeblich darauf, dass er die Messlatte von Beginn an kompromisslos hoch gelegt hat mit seinem Ton und seiner Vorstellung davon, wie diese Musik im Raum stehen – oder vielleicht besser: schweben – sollte. Ein Ton, der im Kern eine kristalline Klarheit mitführt, die dann aber wundersam zerstäuben kann und sozusagen flüchtige Untersysteme bildet, die weit mehr sind als beispielsweise einfache Obertöne. Es ist sehr selten, dass ein Solo-Instrument ein solches weit über sich selbst hinausweisendes Klanguniversum anbieten kann. Was diese Flächigkeit ermöglicht, ist in der Musik überhaupt nicht zu überschätzen: sprechende Pausen, die aus dem Nachhall entstehen. Je luftiger sie wird, desto mehr entdeckt man in dieser Musik, die ständig darum bemüht ist, Verbindungen herzustellen. „Je freier man eine Musik macht, und unsere ist in Teilen sehr frei, desto mehr ist man auf dieses Spüren des Anderen angewiesen, auf Empathie“, erläutert Markus Stockhausen. „In diesem Prozess des gemeinsamen Lauschens kommt man zu quasi meditativen Ausdrucksformen. Meditari heißt ja so viel wie betrachten, bedenken. Man ist also sehr intensiv mit einer Sache befasst. Man ist konzentriert. Wenn man eine nicht klar verabredete Musik spielt, wenn man also Musik im Moment des Spielens neu erfindet, gibt es natürlich ein sehr viel stärker ausgeprägtes offenes Element, und dadurch entsteht häufig eine etwas ruhigere Musik. Weil sich alle an das Finden der Töne herantasten. Dadurch entsteht der Eindruck einer eher meditativen Musik. Das war aber nicht von vorne herein unser Ziel. Sie entsteht durch Konzentration und Zuhören, und diese beiden Elemente vermittelt sie dann auch.“
Dabei geht es vor allem und auf unterschiedlichen Ebenen um Resonanz – und damit auch um größtmögliche künstlerische Intimität und Gemeinsamkeit. „Es gibt auf vielfältigen Ebenen Resonanzen zwischen den Musikern“, erläutert Stockhausen. „Es entsteht ein Gleichklang, und aufgrund dieses Gleichklangs findet man zueinander in der Improvisation, in der Gestaltung der Musik. Resonanz ist aber auch in Bezug auf das Publikum wichtig: eine Verbindung herzustellen, durch die man vielleicht nicht auf der kognitiven Ebene, aber über das Bauchgefühl mitbekommt, ob man willkommen ist und wie die Musik ankommt. Ich spiele ja viel improvisierte oder auch intuitive Musik, und da gibt es so etwas wie ein feines Erspüren der Energien im Wechselspiel mit dem Publikum, auf die man dann mit dem nächsten Ton wiederum reagiert. Diese Form von Resonanz ist vielleicht nicht messbar, aber definitiv spürbar.“
Das neue Album „Far Into The Stars“ ist übrigens zugleich trauriger Höhepunkt und fulminantes Ende von Stockhausens mehrere Jahrzehnte währender Zusammenarbeit mit dem 2017 verstorbenen Tonmeister Walter Quintus, der die Regler immer auch als Musiker bediente, der immer ein bisschen mehr auszuprobieren bereit war als andere und dessen Tod eine Lücke in der Musiklandschaft hinterlassen hat, die weder geschlossen noch hinreichend gewürdigt werden kann. Markus Stockhausen erinnert sich: „Wir hatten ganz einfach eine Übereinstimmung darin, was Schönheit ist. Ich kenne niemanden, der so mischen konnte. Walter war ein emotionaler Typ, er hat mehr gewagt, hat beispielsweise manchmal einzelnen Akkorden noch eine Hallfahne gegeben, die plötzlich so etwas wie einen Blick in eine neue Galaxie angedeutet hat. Natürlich musste man all diese Ideen dann manchmal auch wieder etwas zurückfahren, aber entscheidend ist, dass er einem solche Angebote überhaupt gemacht hat. Das war sehr hilfreich und hat der Musik oft genug etwas Neues hinzugefügt.“ Walter Quintus sind daher posthum gleich mehrere Stücke auf dem aktuellen Album gewidmet.
Zu seinem 60. Geburtstag hat sich Markus Stockhausen übrigens selbst ein sehr interessantes Geschenk gemacht. Er wollte seine Art des Denkens und des Handelns transparent und auch über den flüchtigen Augenblick eines Konzerts hinaus verfügbar machen. Über viele Jahre sind so Aphorismen, Texte und Gespräche zur Musik, kleine philosophische Essays, ein Vortrag über Intuition im Alltag und vieles mehr entstanden, das er jetzt als Buch unter dem Titel „Im inneren Garten“ veröffentlicht hat und das am unkompliziertesten direkt über die Künstler-Homepage beziehbar ist. Es beschreibt, und Stockhausens Musik ist hierfür ein mindestens ebenso starkes Sinnbild, die Generosität und die Zugewandtheit eines aus tiefer Überzeugung gerne gebenden Menschen.