Interview über Intuitive Musik
Michael Ishu Lohmann und Markus Stockhausen über Intuitive Musik
Ist die Musik Deine Weise das Leben zu feiern?
Ja, auf jeden Fall. Musik ist für mich einfach das, was ich am liebsten mache. 80 Prozent meiner Energie geht dahin: üben, spielen und komponieren. Und gerade in den letzten Jahren habe ich mich immer wieder nach Situationen gesehnt, wo die Musik wie ein Ritual ist. Wo Menschen in einem Konzert zusammen kommen und das Konzert wie ein Fest erleben. Wo Musiker zusammen mit den Zuhörern eine Energie aufbauen, die sich immer weiter steigert und sie gemeinsam vielleicht nicht nur in ein schönes, sondern in ein ekstatisches Gefühl hinein kommen. Wo die Musik alle trägt und man sie als Feier erleben kann.
Mir ist das wichtig, weil ich finde, dass die herkömmlichen Rituale, die wir hatten, zunehmend verblassen. Sie sind nicht mehr so integriert in unser familiäres oder gesellschaftliches Leben. Zumindest wenn man nicht in irgendeinem Verein ist und zum Beispiel gerne Karneval feiert. Was ich mir unter einem Fest vorstelle, hat auch udiesen Ritualcharakter und das erlebe ich eher selten. Deswegen entwickele ich gerade Modelle, wie ich Konzerte und Workshops so gestalten kann, dass sie das beinhalten. So probiere ich in den Workshops immer wieder neu, wie man mit ganz einfachen Klängen – gesungen oder auch gespielt – in eine gemeinsame Schwingung kommen kann, in eine Art Kommunion.
Für Dich hat also die Musik eine starke soziale und kommunikative Komponente?
Ja, immer mehr.
Du könntest aber auch sagen: Musik ist mein Weg nach innen. Ein ganz individueller Prozess, den ich auch für mich allein im Studio erleben kann…
Klar. Nun bin ich seit 40 Jahren Musiker und natürlich habe ich auch viel Musik für mich allein gemacht. Zum Beispiel indem ich mein Instrument übe. Doch die wichtigsten und schönsten Momente sind für mich, wenn die Musik zu anderen Menschen fließt, wenn eine Kommunikation stattfindet. Entweder in der Form, dass ich spiele und andere zuhören oder im Spielen mit anderen. Im Austausch mit anderen fühle ich mich viel lebendiger. Wenn im Spiel eine gemeinsame Energie entsteht. Das ist für mich vielleicht sogar der eigentliche Grund, Musik zu machen. Ich habe zunächst mit sechs Jahren Klavier gelernt, doch im Grunde habe ich bis zu meinem 12. Lebensjahr immer nur mit halber Lust geübt. Das wurde dann ganz anders, als mit 13 Jahren die Trompete hinzu kam. Sie war für mich ein Tor zur Welt, denn mit ihr konnte ich mit anderen zusammen spielen: in Bands, Big Bands, in Bläserquintetten, im Blasorchester, bei Turmmusiken oder Prozessionen. Ich war immer mit anderen zusammen und das hat mir den Kick gegeben, Musiker zu werden. Dieses Gemeinsame finde ich einfach schön.
Kannst Du für Dich sagen, was Du mit deiner Musik vermitteln willst?
Das ist eine schwierige Frage, weil jeder die Musik anders aufnimmt. Ich bin da geprägt durch meinen Vater, der immer seine eigene Musik gemacht hat. Er hat nicht die Musik von anderen nachgespielt, sondern hat sein ganz Eigenes gesucht. Auch für mich ist das immer stärker in den Vordergrund getreten. So habe ich mich vor 12 Jahren entschieden, hauptsächlich meine eigene Musik zu machen. Auf der Suche nach dem eigenen Klang, dem eigenen Ausdruck.
Ich kann also nicht so pauschal sagen, dass ich Musik mit einem bestimmten Ziel mache, um die Leute in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Ich spiele die Musik, die mir entspricht – entsprechend meiner inneren Gestimmtheit, meinen tiefen Sehnsüchten oder Phantasien, und oft geprägt auch durch die Kreativität meiner Mitspieler.
Du hast mal gesagt, dass Du Dich mit Deiner Musik dem Schönen, Guten und Wahren verpflichtet fühlst. Soll Deine Musik also vor allem diese Elemente ausdrücken?
Unterm Strich: Ja. Ich möchte etwas schaffen, das positive Signale setzt und dem Zuhörer etwas gibt, das ihn bereichern kann. Es gibt ja in der Kunst viele Beispiele, wo Künstler ihre Probleme darstellen, wo sie bewusst provozieren wollen oder ihren Frust zur Schau stellen. Auch viele Musiker machen das, indem sie zum Beispiel ihre Aggressionen ausleben. Das ist nicht mein Weg. Wenn ich etwas mache, versuche ich, es schön zu gestalten. Beim Komponieren gebe ich mir viel Mühe, damit es hinterher schön klingt und die Instrumente ausgewogen sind. Und auch das tägliche Üben hat ja ganz viel damit zu tun, dass ich den Ton finde, der meinem eigenen Wesen entspricht.
Wesentlich finde ich, dass man sich selbst treu bleibt. Und dann entsteht eine Musik, die bestimmten Menschen gefällt und anderen eben nicht. Und dadurch erkennt man dann nach einer Weile, wo man hin gehört. Für mich stellte sich die Frage: bin ich mehr im Jazz oder in der zeitgenössischen oder der ganz freien Musik angesiedelt? In meinem Fall habe ich dann – zumindest für einen Teil meiner Projekte – den Begriff der „intuitiven Musik“ gewählt. Er bringt am besten zum Ausdruck, dass es keine stilistische Gebundenheit gibt, sondern die Musiker intuitiv jenseits stilistischer Vorgaben frei spielen können. Es ist mir wichtig, allen Mitspielern diesen Freiraum zu geben.
Ich gebe oft Kurse mit intuitiver Musik, und da geht es immer auch darum zu zeigen: Freiheit ja, aber auf der Grundlage eines Könnens und eines wachen Wahrnehmens, was die anderen machen. Und dazu brauche ich ein geschultes Hören und musikalische Grundlagen, die mir die Skalen, Harmonien und Rhythmen aufschlüsseln, sonst tappe ich im Dunkeln. Es lohnt sich diese Fähigkeiten zu üben und zu entwickeln, denn dann entsteht eine sehr viel differenziertere Musik.
Vielleicht kannst Du hier einmal auch für Nicht-Musiker erklären, was „intuitive Musik“ bedeutet. Viele denken da sicher: Jetzt spielen die Musiker einfach aus dem Bauch heraus…
Das ist ja auch nicht falsch. (lacht) Das Gefühl leitet einen beim Spielen. Bei der intuitiven Musik bin ich als Musiker erstmal in einer neutralen Position, wenn ich auf die Bühne gehe. Ich habe nichts Bestimmtes vor, sondern öffne mich der Intuition des Augenblicks. So entwickelt sich aus einem ersten Ton ein Klanggebilde, das unmittelbar mit diesem Moment zu tun hat. Wenn ich mit mehreren Musikern zusammen spiele, bringt jeder natürlich seine eigene Energie, seine Phantasie, sein Spielkönnen mit ein. Daraus entsteht ein hochkomplexes, vielschichtiges Geflecht von Impulsen, die ich alle wahrnehmen kann – wenn ich es kann, denn das ist schwer. Da spielt dann auch der Kopf eine Rolle, denn es geht dann auch darum zu dechiffrieren: Was spielt der andere gerade für einen Akkord, was für eine Skala, welchen Rhythmus, in welcher Lage? Darauf beziehe ich mich dann möglichst bewusst. Wenn ich es nicht wahrnehme, dann bin ich wie der Elefant im Porzellanladen.
Intuitive Musik ist ein Prozess, bei dem man sich aufeinander einlässt und sich Raum gibt. Dafür muss das Ego zurücktreten können, damit man den anderen genauso viel Raum lässt, wie man sich selbst zugesteht. Das ist ein soziales Geschehen, was sehr viel Rücksicht und Sensibilität fordert, auch die Fähigkeit andere mit ihren Ideen zu unterstützen. Aber dann auch im richtigen Moment den Mut haben, mal selbst zu führen, einen Rhythmus vorgeben oder ein Solo mit Kraft ausspielen, weil die Musik das im Moment braucht. Bei der intuitiven Musik ist der Spieler immer in jedem Augenblick auch Komponist. „Instant composing“. Das gesamte bisherige Können, Wissen und Gestalten von Musik steht uns ja unterschwellig zur Verfügung, und der „Kopf“ ist wach daran beteiligt. Im Ideal sind Gefühl und Intellekt im Einklang.
Ist diese Art des gemeinsamen Musizierens für Dich auch wie eine Art Lebensmodell, das man auch auf das Zusammenleben in der Gesellschaft übertragen könnte? Die Utopie einer Gesellschaft, wo sich die Mitglieder gegenseitig unterstützen und sich doch auch den nötigen Raum geben?
Ja, man könnte da Parallelen ziehen. Nur leben wir hier auf der Erde mit so unterschiedlichen menschlichen Bewusstseinsformen zusammen, dass das wohl eine Utopie bleiben wird. Unsere Gesellschaft, mit so vielen unterschiedlichen Wünschen, Idealen und Bewusstseins-schichten ist sehr heterogen. Ein freieres Modell könnte nur funktionieren, wenn die gesamte Menschheit wacher und rücksichtsvoller wäre. Aber weil das leider nicht so ist, brauchen wir Gesetze und Verhaltensregeln.
Mich hat immer sehr die Kardinalfrage beschäftigt: Gibt es eine Entwicklung der gesamten Menschheit zu mehr Reife oder ist es eher wie in einer Schule? Dort verlassen die Leute nach der letzten Klasse die Schule und von unten kommen ständig neue Schüler nach. Die müssen ihre ersten Erfahrungen sammeln, oder wollen erstmal richtig auf die Pauke hauen und fragen sich nur: wie kann ich am meisten für mich rausschlagen ?
Inzwischen neige ich zur Annahme, dass wir uns hier auf Erden wie in einer Schule bewegen, wo immer ein gewisser Prozentsatz zunächst unbewusst handelt. Jeder Einzelne hat unendlich viel zu lernen. Wenn es wirklich eine Gesamtentwicklung gäbe, dann müsste die Erde ja schon seit langer Zeit ein Paradies sein. Schließlich gab es ja schon immer große Lehrer. Ob Buddha, Jesus oder Krishna – sie haben bereits vor Jahrtausenden gelehrt, wie wir uns verhalten müssten, damit ein gutes Miteinander entsteht. Es waren aber immer nur Wenige, die das umgesetzt haben. Heute sind es viel mehr Menschen, die sich ernsthaft bemühen.
Es geht also um eine bestimmte Bewusstseinsschulung, die dann auch die Voraussetzung für ein intuitives Musizieren ist?
Genau! Neben den musikalischen Fähigkeiten braucht es soziale Kompetenzen und eine gewisse Sensibilität, sonst kann es nicht funktionieren.
Du sagtest vorhin, dass Du mit Deiner Musik dem Schönen und Wahren Ausdruck verleihen willst. Gibt es da auch Platz für die Schattenseiten des Lebens?
Natürlich, die haben genauso ihren Platz. Musik lebt ja von Spannung und Entspannung, Trauer und Freude, ich kann Akzente setzen und kann eine musikalische Entwicklung in eine destruktive oder eine positive Richtung lenken. Es entspricht einfach meinem Naturell, dass ich auch die sogenannt negativen Schwingungen des Lebens ausgleichen will. Auch die Natur ist ja bemüht, immer wieder einen harmonischen Zustand herzustellen. Hinzu kommt, dass Klänge etwas sehr Tiefes in uns berühren können. Letztlich haben wir ja alle in uns eine Instanz, die jenseits der quirligen, verstandesmäßigen Ebene existiert. Wir tragen diesen Keim in uns, ob du das jetzt das Absolute, Gott oder Buddha nennen willst. Die Musik kann uns einen Zugang zu dieser Quelle geben. Das sehe ich als meine Aufgabe als Musiker, eine Musik zu machen, die Menschen in dieser Richtung etwas anbieten kann.
Diesem Anliegen trägt Du ja auch in Deinen Workshops Rechnung. Zum Beispiel in Deinen Seminaren „Singen und Stille“, wo auch ausdrücklich musikalische Laien willkommen sind…
Ich habe gerade letzten Samstag an der Alanus-Hochschule in Alfter ein Tagesseminar gemacht, wo auch viele Laien waren, die kein Instrument spielen. Ich habe ein paar einleitende Worte gesprochen und dann haben wir miteinander gesungen. Ganz einfach getönt: Grundton, Quinte, einfache Vokale, das OM gesungen, so dass man sofort in ein Spüren hineinkommt. Und dann ist man auf erstaunliche Weise sehr schnell miteinander verbunden. Es entsteht ein gemeinsamer Raum, der auf alle positiv zurückstrahlt. Dabei ist es mir egal, ob da gute Musiker sind oder nicht. Für mich ist jeder erstmal eine Stimme, ein Klang, dem ich ganz unvoreingenommen begegne. Wir verbinden das gemeinsame Singen mit Phasen der Stille. Und so fangen die Teilnehmer an, sich anders wahrzunehmen. Sie begeben sich in ihr eigenes Zentrum und nehmen von dort die Klänge wahr. Der eigene Körper, die Umgebung, die Geräusche, die anderen Menschen – alles wird vom Zentrum aus wahrgenommen. Da findet man unmittelbar zu sich selbst. Wir lassen einfach aus unserem Inneren einen Ton entstehen. Das ist unsere ursprünglichste Lebensäußerung, so wie die kleinen Babys, wenn sie den ersten Schrei machen. Ganz von innen.
Das Singen ist also ein ganz einfacher und direkter Weg nach innen?
Absolut! Und als ich das für mich gefunden habe, war ich sehr froh! Ich merkte, dass ich damit einen unmittelbaren Kontakt zu meiner inneren Seele gefunden hatte und ich finde es wunderbar, dass ich diese Erfahrung heute an andere weitergeben kann. Auch Menschen, die keinerlei spirituelle Erfahrung haben, können so entdecken, wie es sich anfühlt, wenn man in sich selbst ruht und alle äußeren Zwänge von einem abfallen.