Der mit den Tönen tanzt
Der Mann spielt Trompete, ziemlich gut sogar. Er schreibt für sinfonische Orchester, Bigbands, Kinder oder Heerscharen von Blechbläsern. Markus Stockhausen begegnet der Musik entweder mit einem klaren Plan oder völlig intuitiv, auf jeden Fall anders als die meisten Kollegen und auch als sein berühmter Vater. Harmonischer, offener, den Menschen zugewandt. Aber deshalb noch lange nicht berechenbar.
Es bleibt nahezu ein Unding, ihn festzulegen. Trompeter? Klar, natürlich. Aber einer, der sich an der Hochschule für Musik in Köln durch Robert Platt sowohl die klassische als auch durch Manfred Schoof die jazzige Seite dieses Instruments erschloss. Komponist? Ohne jeden Zweifel! Erst Ende vergangenen Jahres sah Hannover die Uraufführung seines Werkes “Ein Glasperlenspiel” mit 25 Akkordeons, drei Kontrabässen, zwei Schlagzeugern, Harfe und Solotrompete mit Elektronik. Und im März erblickte “Das Erwachende Herz” für vier Solisten und Orchester das Licht einer staunenden Öffentlichkeit.
Konzeptprojekte dieser Art kommen in der Biografie von Markus Stockhausen sowieso mannigfaltig vor. Aber der 55-Jährige ist im selben Maße auch Improvisator. Ein Musiker, der sozusagen spontan komponiert, dem Augenblick ganz die Kontrolle überlässt, etwa als Dirigent von Synergy, einem großen Ensemble, das einfach drauflos spielt. Die Dichotomie eines Grenzgängers, der zu improvisieren anfängt, wenn jeder mit aufnotierten Partituren rechnet, und der statt mit Dirty Notes und Growls durch einen ungewöhnlich klaren Ton überrascht. Irgendwie auch ganz der Papa.
“Mein Vater stand jeder stilistischen Zuordnung grundsätzlich ablehnend gegenüber”, erinnert sich Markus an die kompromisslose Philosophie des 2007 verstorbenen, revolutionären Klangschöpfers Karlheinz Stockhausen. “Ein Werk hatte bei ihm nur dann eine Berechtigung, wenn es ganz neue Aspekte beinhaltete. Dass er sich mit dieser Radikalität des Andersseins aber auch wieder einsperrte und eine bestimmte Form der Identifizierbarkeit lieferte, war ihm wohl nie so recht klar.”
Das Verhältnis der beiden Männer mit der überbordenden musikalischen Fantasie war in den letzten Lebensjahren Karlheinz Stockhausens nicht ganz frei von Problemen. Seit 1976 hatten Markus und sein Bruder Simon praktisch bei jedem seiner Projekte mitgewirkt, bis es 2001 zum Bruch kam und jeder seine eigenen Wege ging. “Danach begann es bei mir erst mit den Aufträgen”, erinnert sich der Trompeter-Komponist-Improvisator, der nach drei Jahrzehnten über ein völlig eigenständiges Profil verfügt, das sich kaum auf einen thematischen Nenner bringen lässt.
Da stehen frühe ECM-Veröffentlichungen von Rainer Brüninghaus, Gary Peacock und Ralph Towner, bei denen er als Sideman mitwirkte, ganz selbstverständlich neben Duos mit dem Gitarristen Ferenc Snetberger, dem Pianisten Florian Weber, dem Oud-Spieler Dhafer Youssef und dem Drummer/Elektroniker Patrice Heral. Es gibt die “Klangvisionen” mit dem Lichtkünstler Rolf Zavelberg, die “Moving Sounds” mit Ehefrau und Klarinettistin Tara Bouman, “Joyosa” (Enja/Soulfood) mit Arild Andersen, 2003 sein bislang größter kommerzieller Erfolg, die Kindersuite “Olivers Abenteuer”, das gigantomanische “Abendglühen” für 1.500 Blechbläser beim evangelischen Kirchentag in Köln 2007 oder elektronische Experimente wie in “Electric Treasures” (beide Aktivraum), um nur einen Bruchteil seiner Arbeit zu skizzieren.
Der junge Stockhausen braucht die Freiheit, sich in alle Richtungen entfalten zu können. Vater und Sohn deshalb noch heute in einen Topf zu werfen, hieße aber schlicht, seine Hausaufgaben im Kulturbetrieb nicht gemacht zu haben. “Ich bin ihm unendlich dankbar. Er hat mich mit den modernsten Aspekten der Musik vertraut gemacht. Eine solche Ausbildung hat mit Sicherheit kaum jemand genießen dürfen. Aber vom Naturell her bin ich völlig anders als er. Einfach der Harmonie und der Melodie mehr zugeneigt.”
Was Markus Stockhausens gerade erst erschienene CD “And The Metropole Orkest” (Intuition/New Arts) vielstimmig belegt: ein prächtiger, energetischer Kosmos aus Klängen, dem Orchester, seinem Dirigenten Jules Buckley und seinen Solisten förmlich auf den üppigen Leib geschneidert.
“Ich versuche, jede Sache losgelöst von der anderen zu betrachten, stelle mir die Musiker vor, die Größe des Ensembles, das ganze Umfeld.” Bei den Livekonzerten zwischen März und Mai 2011 im Amsterdamer Concertgebouw entwickelten sich so kontrastierende, farbige, klangvolle Stücke wie “Yin” und “Yang”, “Tanzendes Licht” und eine erfrischend eingängige Zugabe namens “Felice”, die “einfach gute Laune machen sollte”.
Für Stockhausen stellt der Silberling freilich nur ein Drittel des Outputs in seinem “holländischen Jahr” dar, der – welche Überraschung! – differenter kaum sein könnte. Da gibt es außerdem noch die Kollaboration mit dem BEAM-Ensemble “voor avontuurlijke Muziek” (für abenteuerliche Musik), das sich für “Sensitive Material” (MLB) ganz auf die Erkenntnisse des bekannten Gastes über “intuitive Musik” einließ, und dann noch “Fugara” (DNL), ein Mitschnitt aus dem Amsterdamer Jazzclub Bimhuis mit dem Altsaxofonisten Paul van Kemenade, dem Pianisten Stevko Busch und dem Drummer Markku Ounaskari.
Das Ende eines rein zufälligen Zirkels, aber beileibe nicht eines kreativen Weges. “Heute empfinde ich nicht mehr diesen Druck, unbedingt etwas schreiben zu müssen. Es sind die Aufgaben, die einen reizen. In diesem ganzen Spannungsfeld versuche ich etwas zu schaffen, das den Ansprüchen genügt, die man heute an gute Musik stellt. Es soll weder zu sehr ins Emotionale noch ins Virtuose gehen, soll differenziert sein und auch durchgehört. Nicht immer ganz einfach, aber allemal eine Herausforderung.”
Vor etwa zwei Jahrzehnten soll jemand einmal über Karlheinz Stockhausen gesagt haben: “Ist das nicht der Vater von dem berühmten Trompeter?” So etwas nennt man wohl eine vorhersehbare Vision.